Lebenslinien

Tiefste Trauer

Marie war sieben Jahre alt, als sie mit ihrer besten Freundin Julia und ihrem Bruder Valentin auf dem Nach-Hause-Weg von der Schule war. Sie standen an einer Straßenecke und wollten sich gerade voneinander verabschieden. Für den späten Nachmittag hatte man sich noch einmal verabredet.

Während die Kinder noch an der Ecke standen, verlor ein Autofahrer, der sich trotz 1,9 Promille Blutalkoholwert ans Steuer seines Fahrzeuges gesetzt hatte, die Kontrolle über seinen Wagen. Der Fahrer war ein guter Bekannter von Maries und Valentins Eltern. Das Auto schoss auf den Gehweg und riss Marie und Julia mit. Valentin blieb wie durch ein Wunder zumindest körperlich unverletzt.

Julia verstarb noch am frühen Abend im Krankenhaus an diesem vermaledeiten Tag, zwei Wochen vor Weihnachten im Jahr 1996. Marie hingegen kämpfte sich ins Leben zurück. Drei Monate lag sie im Koma, unzählige Operationen retteten ihr Leben. Ihre Wirbelsäule war gleich zwei Mal gebrochen – einmal auf Höhe des neunten, einmal auf Höhe des zweiten Brustwirbels.

Doch Marie hatte einen unbändigen Lebenswillen, gewöhnte sich an das Leben im Rollstuhl und an die Tatsache, dass sie ihren eigenen Körper unterhalb der Schulterblätter nicht mehr spürte. Sie kehrte an ihre alte Schule zurück, lernte dort eine neue Mitschülerin kennen. Alina sollte zeitlebens ihre beste Freundin bleiben.

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Marie machte Abitur, studierte Jura und fand ihre berufliche Erfüllung in der freien Wirtschaft. Sie war eine starke Frau, die ihren Freund liebte, ihre Arbeit, ihre Familie und den Sport. Wenn es ihr mal nicht so gut ging, fuhr sie allein mit dem Handbike ihre Runden. So konnte sie am besten nachdenken und Frust abbauen. Und sie spielte Rollstuhltennis und liebte es, gegen einen ihrer drei Brüder zu gewinnen.

Ihre Familie bedeutete Marie alles. Sie selbst war das Nesthäkchen und stolze Tante von insgesamt sieben Nichten und Neffen. Der jüngste Neffe wurde gerade erst im März 2023 geboren. Marie platzte vor Stolz.

Einen eigenen Kinderwunsch hatte Marie nicht und legte Wert darauf, dass dies nichts mit ihrer Behinderung zu tun hatte. Sie hätte Kinder kriegen können, verspürte jedoch nie den Wunsch danach. Ihre langjährige Beziehung ging darüber im Jahr 2019 in die Brüche. Man trennte sich im Guten und trotzdem brauchte Marie eine Zeit, um sich wieder auf eine Beziehung einlassen zu können. Gerade als sie selbst so weit war, legte eine Pandemie unser Land lahm. Eine Pandemie, die für Marie als Risikopatientin Lebensgefahr bedeutete und für andere schon eine Qual war, weil sie Maske tragen mussten.

Im Herbst 2021 fing Marie sich das Virus trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ein. Marie musste beatmet werden, fiel erneut monatelang ins Koma. Zwei Mal rief das Krankenhaus in dieser Zeit bei ihr zu Hause an und lud die Familie zur Verabschiedung auf die Intensivstation.

Doch das Kämpferherz in Marie schaffte es auch dieses Mal. Im Mai 2022 konnte sie die Klinik verlassen, litt aber noch monatelang unter den Folgen der COVID-Infektion. Als sie sich gerade halbwegs ins Leben zurück gefunden hatte, musste sie kurz vor Weihnachten 2022 wieder ins Krankenhaus. Eine Nierenbeckenentzündung sorgte für hohes Fieber. Eine Erkrankung, die normalerweise sehr schmerzhaft ist und dadurch früh erkannt wird, die Marie aufgrund ihrer Behinderung jedoch nicht spüren konnte. Es folgten zwei Wochen Krankenhaus, das zweite Weihnachten nacheinander nicht zu Hause.

Die ersten beiden Wochen des neuen Jahres war Marie wieder zu Hause. Am 9. Januar 2023 ging sie erstmals nach ihrer COVID-Infektion wieder arbeiten. Sie war sehr glücklich darüber, durfte sich jedoch nicht lange freuen. Am Freitag, den 13. Januar 2023 ging es wieder ins Krankenhaus. Eine Re-Infektion des Nierenbeckens sorgte wieder für hohes Fieber und dafür, dass eine ihrer beiden Nieren die Arbeit einstellte. Als Folge der Infektionen durch Corona und des Nierenbeckens stellte sich bei Marie ein Muskel-Fatique-Syndrom ein. Sie verlor die Fähigkeit ihre Arme zu bewegen. Es blieben nur die Funktionen in den Händen. Zum zweiten Mal war Marie gezwungen, ihr Leben umzustellen. Sie würde nun eine Assistenz rund um die Uhr benötigen, weil sie bis auf wenige Tätigkeiten nichts mehr selbst machen konnte.

Nachdem die Infektion in den Nieren überstanden war, folgte eine Rehabilitation, die von weiteren Rückschlägen jedoch immer wieder unterbrochen wurde. Eine Blasendruckmessung führte zu verstärkten autonomen Dysreflexien, eine Mandelentzündung, eine Streptokokken-Infektion, eine Lungenentzündung verhinderten weitere Fortschritte, sodass die Rehabilitation Anfang Mai zunächst unterbrochen wurde.

Marie kehrte nach Hause zurück und sollte sich dort zunächst von den Strapazen des inzwischen dreieinhalbmonatigen Krankenhausaufenthaltes erholen. Sie war sehr froh darüber und glücklich, wieder zu Hause zu sein. Die Rehabilitation sollte in der zweiten Jahreshälfte fortgeführt werden.

Nach nur einer Woche zu Hause kam das Fieber wieder, es ging zurück ins Krankenhaus. Eine erneute Infektion sorgte dafür, dass sich das Fatique-Syndrom weiter ausbreitete und Marie auch die Funktion in den Händen verlor. Die Werte ihrer noch arbeitenden Niere verschlechterten sich zunehmend. Sie kam auf die Transplantationsliste für ein Spenderorgan. Eine Druckstelle an der Hüfte machte ihr zusätzlich zu schaffen, so dass sie in dieser Zeit sehr viel schlief und meist nur für zwei bis drei Stunden am Tag wach war.

In diesen wenigen Stunden telefonierte ich jeden Tag mit ihr. Ihre Stimme klang schwach, sie hatte Schwierigkeiten in der zeitlichen Orientierung. Oft wusste sie nicht, welcher Wochentag war und ob es morgens oder abends war. Viele Dinge erzählte sie doppelt, weil sie nicht wusste, ob sie sie schon erzählt hatte.

Ich habe Marie im Dezember 2022 kennengelernt. Sie war nach der Nierenbeckeninfektion aus dem Krankenhaus entlassen worden und voller Tatendrang. Es dauerte nur wenige Tage bis aus dem ersten Kennenlernen eine tiefe gegenseitige Zuneigung wurde. Wer Marie kannte, musste sie einfach lieben. In den ersten beiden Januarwochen machten wir Pläne, buchten Hotels, verabredeten uns für die kommenden Wochenenden, für Ostern, Christi Himmelfahrt und Pfingsten. Es sollte nach Nürnberg zum Fußball gehen, in den Europapark und ans Meer, unserer gemeinsamen großen Liebe.

Am heutigen Donnerstag hätte Marie ihren Geburtstag gefeiert. Sie hat es dieses Mal nicht geschafft. In der Nacht von Montag auf Dienstag ist sie verstorben.

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