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Besondere Tage in Dinkelsbühl

Schon zu Beginn meiner Reise hatte ich ja angekündigt, dass ich paar Tage in Dinkelsbühl in Mittelfranken verbringen werde. Und das, obwohl ich erst im Frühjahr dieses Jahr das letzte Mal hier gewesen bin. Vielleicht sollte ich sagen: Genau deshalb. Eben weil ich im Frühjahr hier gewesen bin.

Die Große Kreisstadt im Landkreis Ansbach ist durch ihre gut erhaltene Altstadt ein echter Touristenmagnet. Neben Rothenburg ob der Tauber gilt der Stadtkern von Dinkelsbühl als besterhaltenes spätmittelalterliches Stadtbild Deutschlands.

Als ich im Frühjahr kurz nach Ostern das erste Mal in Dinkelsbühl war, war ich auf der Durchreise nur eine Nacht hier. Ich war noch nicht im Camper unterwegs, sondern hatte mir ein Hotelzimmer genommen. Am nächsten Tag sollte es nach Nürnberg gehen, wo Fußball und ein Konzert auf dem Plan standen. Es war der Freitag vor Ostern – Karfreitag.

Marie war zu dieser Zeit in der Reha-Klinik in Duisburg und hatte von den Ärzten das OK nicht bekommen, die Klinik über Ostern zu verlassen. Also hatte sich ihre beste Freundin zu Besuch angekündigt, war dann aber am frühen Nachmittag auch schon wieder nach Dortmund zurückgefahren. Marie hatte sie geschickt, denn als die Freundin angefangen hatte, ihr Herz auszuschütten, wusste Marie, dass es nur eine Lösung für die Freundin gab. Sie musste zurück nach Dortmund und die Dinge vor Ort klären.

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So war Marie: Statt auf ihr gemeinsames Wochenende in Duisburg zu schauen, schickte sie die Freundin wieder los. Weil es das Beste für die Freundin war. Und obwohl Marie wusste, dass das gemeinsame Frauenwochenende in der Klinik ins Wasser fallen würde.

Ich kam an diesem Karfreitag gegen 14 Uhr in Dinkelsbühl an. Während meines Spaziergangs durch die Stadt haben wir fast die gesamte Zeit telefoniert. Ich habe ihr von Dinkelsbühl erzählt und ihr Bilder geschickt. Marie hat an diesem Tag das erste Mal realisiert, dass sich ihr Leben nun zum zweiten Mal in bedeutender Art und Weise verändern wird. Die fehlende Kraft in ihren Armen war nichts, das vorüber ging. Aus einer aktiven Frau mit hoher Querschnittlähmung war eine Frau geworden, die fortan rund um die Uhr eine Assistenz und Pflege benötigen würde, so ihre Erkenntnis.

Eine Erkenntnis, die ihr verständlicherweise alles andere als schmeckte. Und die in ihr die Frage aufwarf, warum ich nicht inzwischen längst das Weite gesucht habe. Ich habe ihr natürlich versucht zu erklären, warum dies als Option für mich überhaupt nicht in Frage kam und so drehte sich unser Gespräch an diesem Nachmittag immer wieder um die verschiedenen Sichtweisen auf die Geschehnisse der letzten Wochen. Ihre innere Sicht darüber, wie sich ihr Gesundheitszustand in den letzten Wochen und Monaten verschlechtert hat. Und meine äußere Sicht auf diese Verschlechterung, die es für mich ja im Grunde gar nicht gab, weil ich sie zu der Zeit, nach der sie sich zurücksehnte, nach gar nicht gekannt habe.

Wir telefonierten bis in den späten Abend und unterbrachen das Gespräch nur für die Zeit meines Abendessens. Am Ende des Tages waren wir beide bei allen Einblicken in die Welt des Anderen in etwa genauso schlau wie vorher. Denn wir waren uns einig: Wir konnten nicht wissen, was die Zukunft für uns noch bereithält. Alles, was wir tun konnten, war, unseren gemeinsamen Weg in gegenseitigem Vertrauen aufeinander nach und nach zu suchen. Und so schlossen wir an diesem Abend genau diesen einen Pakt: Den Pakt des Vertrauens. Ich bin für Dich da und Du bist für mich da. Und wohin uns dieser gemeinsame Pakt führt, sehen wir dann, wenn wir beide das Gefühl haben, angekommen zu sein.

Wir verabredeten uns an diesem Abend für das Wochenende nach meinem bevorstehenden Helgoland-Trip und wussten beide im Hinterkopf, dass es auch so kommen konnte, wie es schließlich kommen sollte: Es gab erneute Komplikationen bei Marie, die den Besuch letztlich ins Wasser fallen ließen.

Mit den Gedanken an diesen Karfreitag lief ich nun heute durch Dinkelsbühl, denn wie ich ja schon geschrieben habe, bin ich auf meinem Trip in den Süden der Republik diese Tage auch dabei, das Handschriftliche des gemeinsam mit Marie begonnenen Romans ins Laptop abzutippen und das Werk im zweiten Schritt der Veröffentlichungsversion näher zu bringen. Und selbstverständlich kam mir dabei auch unser Pakt wieder in den Sinn. Der Pakt, den wir hier in Dinkelsbühl geschlossen haben und der uns bis zu Maries Tod Ende Mai begleitet hat.

Es gibt Menschen, die mich ansehen und vielleicht das Gefühl haben, dass ich die schlimmste Zeit nach Maries Tod vor fünf Monaten inzwischen hinter mir habe. Diese Menschen haben keine Ahnung. Ich stecke gefühlsmäßig noch immer so tief im Schlamassel, dass kein Tag vergeht, an dem mir nicht die Tränen kommen. Heute hier in Dinkelsbühl habe ich diese Tränen das erste Mal in aller Öffentlichkeit zugelassen. Marie, Du fehlst so unendlich!

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